Der  Chor

 

Neraja spürte den scharfen Wind der ihr Gesicht rötete, kaum. Ihr Blick verlor sich in der Ferne, irgendwo auf der anderen Seite des Canyons. Unter ihren nackten Füßen spürte sie die kalte, krümelige Erde. Ihre Zehen krallte sich fest hinein. Nur noch ein Schritt trennte sie vom Rand.

 

Ein Schritt. Neraja beugte sich ein wenig vor. Sie konnte den Grund des Canyons nur erahnen.

 

Ein Schritt und sie wäre frei.

 

„Hier bist du!“ Aus Klaas` Stimme hörte sie eine Mischung  aus Vorwurf und Erleichterung heraus. Einen halben Schritt hinter blieb er stehen und berührte ihre Schulter.

 

„Schön ist es hier, oder? Spürst du hier das Netz deutlicher als bei uns im Lager?“

 

Neraja nickte stumm.  Im Stillen fragte sie sich, wann der Zeitpunkt gekommen war, an dem sie Klaas verloren hatte. War er so blind, nicht zu sehen, was hier geschah?

 

Er zog sie an sich. „Willst du noch bleiben oder kommst du mit mir?“ Sie sah ihn nicht an. „Ich bleibe noch, wenn das für euch in Ordnung ist.“ Er streifte ihren Nacken sanft mit seinen Lippen.. „Natürlich.“ Er zog seine Hand zurück und ging. Neraja konnte die Flammen des abendlichen Lagerfeuers bis hierher knacken hören. Dann blendete sie alle störenden Geräusche aus und konzentrierte sich nur noch auf das Netz. Sie spürte die Kraftlinien der Erde wie Verlängerungen ihrer Gliedmaßen. Nach wenigen Augenblicken erschienen die violetten, blauen und roten Linien vor ihren Augen, die alle Lebewesen mit dem Planeten verbanden. Irgendwo, am Ende einer dieser Linien lebte ihr Chor. Die Gemeinschaft, in der sie aufgewachsen war. Neraja traten die Tränen in die Augen. Der schon vertraute stechende Schmerz stieg von ihrer Körpermitte her auf und verband sich mit den Kraftlinien, die an ihren Händen auf ihren Körper trafen. Die Linien strahlten heller und intensiver, der Schmerz steigerte sich beinahe ins Unerträgliche. Gerade, als sie glaubte, es nicht länger aushalten zu können öffnete sie ihre Lippen und begann zu singen.

 

Wie eine Flutwelle überspülte sie die Kraft ihrer Stimme, die trotz aller Gewalt doch nur ein winziger Teil ihres Chores war. Sie sang mit ihrem ganzen Wesen und verlor sich in den Kraftlinien. Vor ihren Augen sah sie, wie sich die Linien vom Violetten ins Gelbliche verfärbten. Ihr ganz persönliches Erkennungszeichen. Sie stieß sie ihre Hände in den Himmel und sandte ihre Stimme zu ihrem Chor. Ein Puls durchschlug ihren Körper und Neraja taumelte keuchend vom Canyon zurück. Aus dem Augenwinkel sah sie noch, wie die gelbe Kraftlinie weiterlief, auf dem Weg zu ihrem Ziel. Sie sackte auf dem körnigen, kalten Boden zusammen und schlug die Hände vors Gesicht.

 

Warum war sie nur weggegangen? Warum hatte sie ihren Chor verlassen?

 

„Neraja?“

 

Vor ihr stand die zehnjährige Karna.

 

„Ich komme sofort Karna.“ Sie rang sich ein Lächeln ab.

 

„Du hast gesungen.“ Es war eine Feststellung.

 

„Ja, das habe ich. Auf diese Art kann ich eine Nachricht an meine Familie schicken.“ erklärte Neraja. Ihre Stimme drohte zu kippen.

 

„Stammst du nicht aus einem Chor?“ fragte Karna.

 

Neraja nickte. „Der Chor ist meine Familie. Unsere Ausbildung beginnt bereits im Alter von fünf Jahren. Wir lernen zu singen und mit dem Gesang die Kraftlinien der Erde zu verändern um so Botschaften über weite Entfernungen zu senden. Für einen einzelnen sind nur kurze Nachrichten möglich. Aber ein Chor“ Neraja stockte und würgte mit Gewalt den Kloß in ihrem Hals herunter. „In einem Chor singen weit über zwanzig meines Volkes zusammen und verändern die Kraftlinien zum Wohl aller.“ Neraja spürte nach, wie die Musik ihren ganzen Körper ergriff und sie sich mit ihrem Wesen in dieser Musik auflöste.

 

„Du vermisst sie sehr, oder?“ Karna legte ungeschickt einen Arm um sie.

 

Neraja blinzelte die aufsteigenden Tränen fort. „Ja, ich vermisse sie sehr.“

 

So sehr, dachte sie, dass ich lieber nie wieder etwas spüren möchte.

 

„Warum bist du von ihnen weggegangen?“ fragte Karna.

 

Neraja nahm ihre Hand. „Ich durfte entweder Teil des Chors sein oder deinen Onkel Klaas lieben.“

 

Es war ihr vorgekommen, als müsste sie sich entweder von ihrem Herzen oder von ihrer Seele trennen.

 

„Kannst du denn nie wieder zurück?“

 

Neraja senkte den Kopf. „Nicht in meinen Chor. Wenn ich euch für immer verlasse vielleicht in einen anderen.“

 

 

 

Karna überlegte. „Irgendwie sind wir jetzt dein Chor. Mein Familie.“

 

Neraja sah Karna an. Aus dem Blick des Mädchens sprach soviel Herzlichkeit, dass sie lächeln musste. „So ist es. Ihr seid jetzt mein Chor.“

 

Karna strahlte. „Kommst du jetzt mit zum Feuer?“

 

„Gleich, ja?“ bat Neraja. Karna nickte und ließ sie allein.

 

Neraja trat erneut an den Rand des Canyons.

 

Sie hatte aus Liebe zu Klaas mit der einzigen Familie gebrochen, die sie gekannt hatte.

 

Ihre Zehen krallten sich in den Boden.

 

Ein Schritt.

 

Plötzlich spürte sie zum ersten Mal die wachsende neue Kraftlinie in ihrem Bauch.

 

Ein Schritt.

 

Sie spürte die Verbindung zum Chor, ihrer Vergangenheit. Und zu diesem neuen Leben.

 

Ihrer Zukunft.

 

Sie drehte sich um und ging zum Lagerfeuer.