Das Einhorn

 

Das Einhorn flog beinahe über den Waldboden. Kaum berührten seine Hufe das weiche Moos. Schneller als es die Augen seiner Jäger zu sehen vermochten duckte es sich unter den seitlichen Ästen des Unterholzes hinweg. Noch hatte es Kraft, doch es spürte bereits die beginnende Ermüdung. Bisher war ihm die Flucht vor den Jägern immer gelungen, in all den fünf Sommern seines Lebens. Doch dieses Mal waren die Menschen schlauer gewesen. Statt dass einige das Einhorn alleine bis zur Erschöpfung zu treiben versuchten, wechselten sie sich dieses Mal ab. Wie in einem Staffellauf Übernahme immer wieder eine neue Gruppe die Verfolgung. Als Reittiere dienten ihnen zahme Einhörner, dumme Kreaturen, von den Menschen gezüchtet und ausgenutzt wegen ihres kostbaren Horns.

 

Doch das war nicht gegen den Wert eines wilden Einhorns. Die Kraft des ungezähmten Tieres, seine Ausdauer und sein Stolz übertrug sich auf denjenigen, der das Horn zu Pulver mahlte und als Tee zu sich nahm, so sagten die Menschen.

 

Das Einhorn wusste nicht, woher seine Kraft und Ausdauer kam. Es spürte nur, wie beides zu schwinden begann. Schon schlug ihm ein Ast vor den Kopf, weil seine Reaktion nicht schnell genug war. Es musste hier weg, die Verfolgung musste enden, sonst würde es als Gefangener enden. Schon jetzt musste es seine Geschwindigkeit verringern und die Rufe der Jäger bestätigten ihm, dass sie es auch bemerkt hatten.

 

Schaumfetzen lösten sich von seinem Maul. Die feingliedrigen Hufe fanden keinen sicheren Tritt mehr, das Einhorn strauchelte.

 

„Wir haben es!“ rief einer der Jäger. „Holt die Seile!“

 

Die aufwallende Angst gab dem erschöpften Tier die Kraft zu einem letzten Fluchtversuch. Es scherte scharf nach rechts aus, so dass seine Hinterhufe über den Boden schlitterten. Dann galoppierte es genau auf die Schlucht zu.

 

Die Jäger bemerkten sein Manöver.

 

„Schneidet ihm den Weg ab! Es will springen!“ rief ein Jäger.

 

Schon hörte es von links die Jäger herannahen. Mit ihnen kamen die Hunde. Von ihnen ging die wirkliche Gefahr aus, denn sie waren schneller als die inzwischen auch erschöpften Reittiere der Jäger.

 

Das Einhorn spannte ein letztes Mal seinen gesamten Körper an und sprang mit einem gewaltigen Satz über die sich vor ihm öffnende Schlucht. Für einen Augenblick spürte es die Freude ungebändigter Freiheit, als es durch die Luft flog. Das Gefühl wurde durch einen scharfen Schmerz abgelöst, der durch sein rechtes Vorderbein schoss, als es hart auf dem Boden auf der anderen Seite aufkam. Die Beine knickten ihm ein und es blieb mit schweißnassen Flanken unter einem Busch, außerhalb der Sichtweite der Jäger liegen.

 

Auf der anderen Seite der Schlucht begannen die Hunde frustriert zu jaulen und zu bellen.

 

„Wir haben es verloren!“ rief einer der Jäger.

 

„Können wir nicht hinüber? Wir nehmen die Brücke am Weierstal.“ fragte ein anderer.

 

„Es hat keinen Sinn. Bis wir die Stelle erreicht haben wird es weg sein. Reiten wir nach Hause.“

 

Das Einhorn hörte, wie die Jäger ihre Hunde zurückpfiffen und die sich entfernenden Hufschläge der zahmen Einhörner. Seine Flanken hoben und senkten sich, ab und an lief ein Zittern durch seinen Körper. Es schloss die Augen und blieb auf dem Waldboden liegen.

 

 

 

Lia sprang von Moosbett zu Moosbett, so dass ihre nussbraunen Zöpfe wild hin und her hüpften. Sie genoss die letzten Sonnenstrahlen des Herbstes, die sich vereinzelt ihren Weg durch das herbstlich bunte Blätterdach des Waldes brachen. Wie jedes Mal, wenn sie an diese Stelle des Waldes kam, trat Lia ganz nah an die tiefe Schlucht heran, die sich wie ein lange vernarbter Riss durch die Erde zog. Ihr Vater hatte ihr streng verboten, so nah am Abgrund zu spielen, doch Lias Faszination war stärker. Sie nahm einige Tannenzapfen und Eicheln vom Boden auf und warf sie in hohem Bogen über den Rand. Zuerst hörte sie das klickern, wenn die Waldfrüchte am Rand der Schlucht von Stein zu Stein hinunterfielen. Doch dann hörte sie nichts mehr. Als habe der Abgrund Lias Gabe einfach verschluckt. Manchmal bildete sie sich ein, ein entferntes Echo zu hören, wenn ein Tannenzapfen unten aufschlug.

 

Auch heute meinte sie, etwas wie ein entferntes Atmen zu hören. Als hätte der Abgrund sein riesiges Maul aufgerissen um die Eicheln und Tannenzapfen zu verschlucken. Lia lauschte. Ja, eindeutig, da war es nochmal. Als ihr klar wurde, dass das Geräusch tatsächlich d war und nicht nur ihre Phantasie ihr einen Streich spielte, bekam sie eine Gänsehaut.

 

Da war wirklich ein schweres Atmen. Lia sah sich um. Hin und hergerissen zwischen ihrer Neugierde und ihrer Angst siegte am Ende der Reiz des Unbekannten. Langsam bewegte sie sich auf das Gebüsch zu, aus dem das Stöhnen kam. Durch die Blätter hindurch schimmerte etwas wie eingefangene Sonnenstrahlen. Als Lia die Äste des Busches vorsichtig teilte stockte ihr der Atem.

 

Vor ihr lag ein Einhorn!

 

Ein richtiges, wildes Einhorn. Nicht so eins wie die, die ihr Vater züchtete.

 

Das Tier lag mit geschlossenen Augen auf der Seite. Die flanken hoben und senkten sich in einem unruhigen Rhythmus. Das Fell glänzte vor Schweiß und an seinem Maul klebten noch Schaumfetzen.

 

Lia hatte im Stall ihrer Eltern mitgearbeitet seit sie laufen konnte. Beinahe wie von selbst ergriff sie eine Handvoll trockenen Laubes und begann nach kurzem Zögern, das seidig schimmernde Fell mit kräftigen Strichen abzureiben. Das Einhorn zuckte unter ihrer Berührung zusammen, doch seine Augen blieben geschlossen.

 

„Du Arme.“ flüsterte Lia. „Was ist nur mit dir passiert? Du musst ja zu Tode erschöpft sein.“

 

 Als sie über den Bauch der Stute strich merkte sie plötzlich eine Bewegung.

 

„Du bist trächtig!“ Lia riss die Augen auf. Mit geübten Bewegungen tastete sie den Bauch der Stute ab. Ja, es gab keinen Zweifel, das Einhorn würde in einigen Wochen fohlen.

 

„Kannst du aufstehen?“ Sanft versuchte Lia die Stute zum Aufstehen zu bewegen. Das Einhorn öffnete die Augen und sah das Mädchen an. Sein erster Reflex war Flucht vor den Menschen. Es setzte die Hufe auf und versuchte aufzustehen. Doch ein scharfer Schmerz schoss ihm durch das Vorderbei und es knickte wieder ein. Es schnaubte unwillig und versuchte es erneut. Doch wieder gab das Bein nach und es sackte auf den Waldboden zurück.

 

„Hab keine Angst. Lass mich dein Bein ansehen.“ sagte das Mädchen.

 

Das Einhorn rollte mit den Augen und schnaubte. Es versuchte mit dem gesunden Bein nach dem Mädchen zu treten. Doch dieses wich ihm geschickt aus. Sie lächelte. „Das musst du bei mir nicht versuchen, ich bin praktisch im Einhornstall aufgewachsen.“ lachte sie. Unnachgiebig und trotzdem sanft griff sie nach dem schmerzenden Bein. Das Einhorn war so verwirrt und voller Angst, dass es sich dieses Mal nicht wehrte. Das Mädchen tastete das Bein gründlich ab. Als es an die schmerzende Stelle kam schnaubte das Einhorn und warf den Kopf zurück.

 

„Schon gut.“ murmelte das Mädchen. Es ist nicht gebrochen, nur verstaucht. Ein Umschlag mit Kräutern und essigsaurer Tonerde und ein paar Tage Ruhe, dann kannst du wieder über Schluchten springen.“ Sie lächelte und ließ ihren Blick über den gerundeten Bauch gleiten. „Obwohl du das in der nächsten Zeit vielleicht nicht mehr tun solltest.“ Sie strich ihm über den Kopf. Dieses Mal zuckte es nicht zurück. Obwohl sie ein Mensch war, strahlte sie etwas Vertrautes aus. In ihrer Stimme lag keine Wut, keine Gier wie bei den Jägern. Sie schien zu spüren, was in ihm vorging.

 

„Ich nehme dich mit nach Hause. Bei uns im Stall hast du andere Einhörner zur Gesellschaft und kannst dich erholen. Dort ist es warm und trocken. Hier draußen ist es zu gefährlich für die. Es gibt Bären, Wölfe und – Jäger.“

 

Bei der Erwähnung der Jäger durchlief das Einhorn ein Zittern und es rollte mit den Augen. Lia legte den Kopf schief. „Waren es die Jäger, die dich gehetzt haben? Bist du deswegen über die Schlucht gesprungen?“

 

Das Einhorn schnaubte. Lia nickte. „Ich werde dein Bein stramm verbinden, damit du auftreten kannst. Bei uns im Stall werde ich dich dann richtig versorgen.“

 

Ohne zu Zögern riss sie ihren Unterrock in Streifen und verband das verletzte Bein.

 

„Versuch es noch einmal.“ sagte sie und fasste das Einhorn sanft am Kopf. Die Stute brauchte drei Anläufe, doch dann stand sie zitternd auf ihren Beinen. Lia streichelte sie, bis sie sich beruhigt hatte. Dann drehte sie sich um und bedeutete dem Einhorn, ihr zu folgen. Die Stute zögerte, doch schließlich folgte sie ihr. Lia betrachtete ihr verletztes Bein. Sie lahmte eindeutig, doch für den Weg bis nach Hause würde es gehen.

 

Kaum war sie daheim, führte Lia das Einhorn in die hinterste Quarantänebox. Zu ihrem Erstaunen weigerte sich das Tier nicht, den Stall zu betreten. Normalerweise waren wilde Einhörner scheu und durch die regelmäßigen Jagden sehr selten geworden. erst zweimal hatte Lia eines im Wald aus der Ferne gesehen. Doch dieses schien ihr zu vertrauen oder zumindest zu verstehen, dass es ohne Hilfe im Wald keine Überlebenschance hatte.

 

Die anderen Einhörner schnaubten und sahen dem Neuankömmling neugierig entgegen. Lia fiel auf, wie unterschiedlich die zahmen, gezüchteten Einhörner im Vergleich zu ihren wilden Verwandten waren: Die Einhörner ihrer Eltern waren im Körperbau immer noch schlank, doch deutlich massiger als das feingliedrige wilde Einhorn. Auch schimmerte das Fell nicht in seidigem Elfenbein sondern war eher von einem stumpfen weiß.

 

„Lia! Wo steckst du?“

 

„Mein Vater!“ Lia schrak zusammen. Sie schob das Einhorn in die hinterste Quarantänebox, die seit Jahren leer stand.

 

„Ich lasse die Tür offen, damit du dich nicht verletzt, falls du Angst bekommst. Aber bitte bitte, lass dich nicht sehen!“ Damit lief sie ihrem Vater entgegen.

 

„Ich bin hier Vater!“

 

„Hast du dich wieder heimlich im Wald rumgetrieben?“ Ihr Vater wartete die Antwort erst gar nicht ab, sondern scheuchte sie ins Haus.

 

In den nächsten Wochen ging alles gut. Der Winter war hereingebrochen und auf dem Hof lag eine dicke Schneedecke.  Lia versorgte das Einhorn heimlich und es blieb in seiner Box. Sie wechselte seine Verbände und war erstaunt, wie schnell es sich von seiner Verletzung erholte. Dennoch blieb es.

 

„Du willst hier fohlen, hm?“ murmelte Lia und strich über den deutlich gerundeten Bauch. „Ich kann dich verstehen. Hier ist es warm und trocken und sicher vor den Jägern.“

 

„Lia!“ Ihr Vater kam in den Stall. Lia wollte ihm entgegen laufen, doch sie stolperte dabei über den Futtereimer des Einhorns. Es schepperte so laut, dass die Stute zusammen zuckte und wieherte.

 

„Was ist denn da hinten los?“ rief ihr Vater. Bevor sie es verhindern konnte war er bei ihr und half ihr auf. Als er das Einhorn dabei entdeckte ließ er seine Tochter vor Schreck beinahe wieder los.

 

„Was ist denn das?“

 

Seine laute Stimme erschreckte die Stute. Sie begann zu steigen und wich dabei bis an den hintersten Rand der Box zurück. Lias Vater reagierte schnell und schlug das Boxengatter zu.

 

„Ein wildes Einhorn! Lia! Wo kommt denn das her?“ Er lachte laut. Die Stute schrie und schlug mit den Hufen gegen das Gatter.

 

Stockend erzählte Lia, wie sie das verletzte Einhorn im Wald gefunden hatte. Ihr Vater umarmte sie stürmisch. „Lia, weißt du, was das heißt? Wenn wir das Horn verkaufen können wir die Schulden des Hofs auf einen Schlag zurückbezahlen.“

 

„Du willst ihr das Horn absägen?“ Lias Stimme erstickte beinahe.

 

Ihr Vater runzelte die Stirn. „Aber natürlich. Das siehst du doch nicht zum ersten Mal.“

 

Er drehte sich zu der Stute um, die inzwischen ihren Fluchtversuch aufgegeben hatte und schweißnass mit bebenden Flanken in der Box stand. „Sie ist trächtig." Ihr Vater lachte. „Lia, das ist das Beste, was du je im Wald gefunden hast! Wir sind reich! Auch wenn ihr Horn nur langsam nachwachsen wird, wird sie uns zusammen mit ihrem Fohlen über Jahre ernähren können! Ich werde es sofort deiner Mutter erzählen.“

 

Ihr Vater lief aus dem Stall.

 

Lia war den Tränen nahe. Natürlich wusste sie, dass ihre Eltern von der Einhornzucht lebten. s war für sie ganz normal, dass bei jedem Einhorn alle zwei Jahre das Horn abgesägt und verkauft wurde. Die Prozedur war für die Tiere schmerzhaft und sie mussten dazu fixiert werden. Doch Lia war damit aufgewachsen, sie wusste, dass es notwendig war. Doch diese Stute war wild und frei. bei ihr war es anders.

 

Bevor sie noch den Mut verlieren konnte öffnete sie das Gatter.

 

„Lauf! Du bist frei!“

 

Das Einhorn stürmte auf die offene Tür zu. In diesem Augenblick betraten ihre Eltern den Stall. Die Stute stoppte und stieg. Sie schlug mit den Vorderhufen nach Lias Mutter.

 

„Nein!“ Lia rannte nach vorn und stellte sich zwischen das Einhorn und ihre Eltern. Als sie sah, dass das Tier sich den Fluchtweg auch mit Gewalt bahnen würde, rammte sie ihren Vater mit voller Wucht. Das Einhorn floh nach draußen und wurde fast augenblicklich eins mit den herabfallenden Schneeflocken.

 

„Lia, wenn ich dich erwischt habe bekommst du die Tracht Prügel deines Lebens!“ brüllte ihr Vater.

 

Lias Augen weiteten sich. Sie flüchtete aus dem Stall. Draußen wartete das Einhorn. Sie betrachtete das Tier. s schien sie zu verstehen. Einem plötzlichen Impuls folgend schwang sie sich auf seinen Rücken. Das Einhorn schnaubte und lief mit ihr in den Wald. hinter ihr hörte sie ihren Vater brüllen.

 

Erst tief im Unterholz und weit entfernt vom Hof ihrer Eltern kamen sie zum Stehen. Das Einhorn war froh, die ungewohnte Last auf seinem Rücken loszuwerden. Auch spürte es die herannahende Niederkunft. Das Mädchen schien zu verstehen und glitt von seinem Rücken.

 

Plötzlich knackte es im Unterholz. Das Einhorn schrak zusammen und mit einer einzigen fließenden Bewegung stieß es das Mädchen zur Seite.

 

Im nächsten Augenblick brach ein Bär aus dem Gebüsch. Das Einhorn richtete sich auf. Der Bär stellte sich auf die Hinterbeine und brüllte. Das Mädchen schrie in Panik. Das Einhorn entschloss sich zu einem direkten Angriff, in der Hoffnung den Bären genug einzuschüchtern, damit er den Angriff abbrach. Schnee stob auf und es senkte den Kopf. Der Bär brüllte, zögerte aber mit dem Angriff. Das Einhorn stieß vor und spürte, wie die Spitze seines Horns das Fell des Bären durchdrang. Rasch zog es sich zurück, damit es nicht von dem Bären mitgerissen werden könnte.

 

Der Bär brüllte vor Schmerz und Wut. Das Mädchen hatte aufgehört zu schreien. Es starrte mit schreckgeweiteten Augen den Bären an.

 

Das Einhorn blieb in seiner Drohstellung, bis der Bär sich endgültig zum Rückzug entschloss und wieder im Wald verschwand.

 

Das Mädchen fiel dem Einhorn um den Hals.

 

„Du hast mich gerettet.“ flüsterte sie.

 

Das Einhorn stieß sie sanft an. Sie mussten weiter. Es war nicht mehr weit bis zu der Höhle, in der es sein Fohlen zur Welt bringen wollte.

 

Lia konnte kaum noch laufen, als sie eine große, offene Höhle erreichten. Das Einhorn ging ohne zu zögern hinein. Drinnen war es windgeschützt und trocken. An einer bemoosten Stelle ließ sich die Stute nieder. Lia erkannte, dass die Geburtswehen bereits eingesetzt hatten. Wie verzaubert blieb sie still sitzen. Es schienen ihr nur wenige Minuten vergangen zu sein, als das winzige, schimmernde Fohlen aus der Stute herausglitt.

 

Das Einhorn leckte sein Junges trocken und wenige Augenblick stand es auf, um bei der Mutter zu trinken.

 

„Es ist ja schwarz.“ flüsterte Lia. Alle Einhörner, die sie bisher als Fohlen gesehen hatte waren grau. Dieses hier war tiefschwarz und glänzte wie geschmolzenes Eisen.

 

Erschöpft von ihrer Flucht schlief Lia halb im Sitzen neben der Stute und ihrem Fohlen ein.

 

Sie erwachte von Stimmen, die ihren Namen riefen.

 

„Lia, wo bist du?“

 

„Komm her, hier ist eine Höhle!“

 

„Ich habe sie gefunden! Lia!“

 

Es waren ihre Eltern. Ihre Mutter weinte vor Freude, ihr Vater umarmte sie stumm.

 

„Es tut mir so leid.“ flüsterte er.

 

Das Einhorn scharrte mit den Hufen. Sein Fohlen versteckte sich hinter ihm.

 

„Es hat mir das Leben gerettet. Bitte lass ihm seine Freiheit.“

 

Der Blick ihres Vaters wechselte zwischen ihr und dem Einhorn. Dann sagte er zu der Stute: „Ich danke dir. Da du das Kostbarste gerettet hast, was ich im Leben habe, schenke ich dir das Kostbarste für dich: Deine Freiheit.“

 

Lia fiel ihm um den Hals. „Danke.“ flüsterte sie.

 

Ihr Vater lächelte. „Weißt du, ich glaube du hast Recht. Die wilden Einhörner sind so selten geworden, sie gehören in die Freiheit.“ Er wies auf das Fohlen. „Das da ist die Hoffnung auf eine Zukunft für sie.“

 

Das Einhorn schnaubte. Dann stupste es sein Fohlen an und verließ die Höhle, um wieder im Wald zu leben.